Geschichten von der Küste zum Vorlesen für Groß und Klein
Liebe Meerjungfrauen und Seemänner, zwischen all unseren Tipps rund ums maritime Leben gibt es heute einen Beitrag für eure kleinen Küstenkinder aus unserer Rubrik der Küstengeschichten zum Vorlesen. Bei all diesem Regen muss man auch einfach mal Zuhause bleiben und es sich gemütlich machen. Also, kuschelt euch alle zusammen aufs Sofa und seid gespannt auf...
DIE GESCHICHTE VON DER KLEINEN MÖWE, DIE DAS FLIEGEN LERNTE
SCHON VIELE SOMMER IST ES NUN HER, da wohnte eine kleine Möwe mit ihrer Familie in ihrem Nest dicht vor der Küste. Es war ein friedliches Dasein, und kein Tag verging, an dem die kleine Möwe nicht den Sonnenaufgang bestaunte und abends den kleinen Dünenläufern bei ihrer Arbeit zusah. Für das menschliche Auge waren die winzigen Kerlchen nicht zu erkennen, aber für die kleine Möwe war das kunterbunte Treiben dort zwischen den Sandbänken und Dünen unvergleichlich.
Nur das Fliegen hatte sie immer noch nicht meistern können. Während ihre beiden Geschwister schon emsig durch die Lüfte sausten und sich von den Windströmen tragen ließen, tappste sie noch immer unschlüssig in ihrem Nest auf und ab. Schon ein paar Mal hatte sie versucht, es ihnen gleichzutun, doch immer, wenn sich ihre Füße dem Rand des Nestes näherten, puckerte ihr Herz plötzlich ganz schnell, und was sie auch versuchte, es wollte ihr einfach nicht gelingen, ihre Flügel auszubreiten.
EINES ABENDS JEDOCH, die Dünenläufer hatten gerade erst ihr Strandgut sortiert und ihre Farben für den Sonnenuntergang zusammengemischt, zog ein Sturm auf, so gewaltig, wie ihn keiner der Küstenbewohner seit langer Zeit gesehen hatte. Die Dünenläufer packten hastig ihre Sachen zusammen und schlüpften quiekend in die nächstgelegenen Muscheln, doch einem gelang es nicht mehr rechtzeitig, sich in Sicherheit zu bringen. Erst flog sein Mützchen davon, und ehe er sich's versah, purzelte er auch schon auf einer Windbö davon.
Das alles sah die kleine Möwe, und bevor sie darüber nachdenken konnte, watschelte sie so schnell sie konnte zum Rand des Nestes und schnappte den vorbeifliegenden Dünenläufer - beziehungsweise Windstolperer - beim Rockzipfel. In der ganzen Aufregung vergaß sie aber leider, was sie sich bei ihren Geschwistern schon alles abgeguckt hatte, und so flatterte sie nur panisch mit den Flügeln, ohne wirklich zu fliegen. Mit einem Rumms, den sie noch bis in ihre Schwanzfedern hinein spürte, gab es eine Bruchlandung, und der kleinen Möwe wurde schwarz vor Augen.
ALS SIE ERWACHTE, war der Himmel noch immer dunkel vor lauter Wolken, aber Wind und Regen hatten nachgelassen, und die kleine Möwe versuchte sich daran zu erinnern, warum sie auf dem Boden übernachtet hatte. Als ihr plötzlich alles wieder einfiel, sprang sie ruckartig auf, um nach dem kleinen Dünenläufer zu suchen, der mit ihr in die Tiefe gestürzt war.
"He!", ertönte es auf einmal dicht hinter ihrem Ohr. Vor lauter Schreck machte sie noch einen Satz nach vorne, und das fiepsende Stimmchen fiel polternd vor ihr in den Sand. Da saß nun der kleine Dünenläufer und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hosenboden.
"Ach du liebes bisschen", entfuhr es der kleinen Möwe, "das tut mir aber leid! Ich dachte, du wärst bei unserem Sturz verloren gegangen!"
"Nö!", erwiderte der kleine Zwerg grinsend und stemmte die Hände in die Hüfte. "Bin beim Fallen aus deinem Schnabel geklettert und hab mich in deinen Federn festgehalten. Da hab ich auch geschlafen, als ich dich nicht wecken konnte", sagte er und klopfte sich die letzten Sandkörner aus dem Ärmel. Dann nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an.
"Junge, Junge, das war vielleicht ein Sturm gestern. Wir sind ganz schön weit gesaust und gepurzelt. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich vielleicht schon in Timbuktu gelandet, oder sonstwo. Ich hab mir ganz schön Sorgen gemacht, als ich dich nicht wachbekommen hab. Aber du bist auch ziemlich dolle auf den Schnabel geknallt, das kannste aber wissen, da hätt's mir wohl auch erstmal die Lichter ausgepustet. Du, aber sag mal..." - er schaute der kleinen Möwe in die Augen - "kannst du denn gar nicht fliegen?"
BETRETEN BLICKTE DIE KLEINE MÖWE ZU BODEN. "Hab's ja versucht", sagte sie kleinlaut, "aber ich krieg das mit diesen blöden Luftströmen und dem Geflatter einfach nicht hin." Da fing sie auf einmal bitterlich an zu weinen. Der Schreck saß ihr immer noch im Gefieder, sie wusste nicht, wo sie war oder wo das Nest ihrer Eltern lag, aber vor allem schämte sie sich, dass sie als Jung-Möwe immer noch nicht fliegen konnte.
"Na, na, nicht weinen!", sagte der kleine Dünenläufer und hopste auf sie zu. Tröstend tätschelte er der kleinen Möwe den Kopf und kuschelte sich ganz dicht an sie heran. Die schluchzte noch ein bisschen vor sich hin, beruhigte sich aber bei den tröstenden Worten des kleinen Kerls allmählich und sagte dann, immer noch ein bisschen schniefend: "Wie finde ich denn jetzt mein Nest wieder? Ich weiß ja gar nicht, wo wir sind, und von unten erkenne ich es bestimmt nicht."
"Hmmm," machte der kleine Dünenläufer und kratzte sich die krausen blauen Locken unter der Mütze, "dann bring ich es dir eben bei." Mit großen Augen sah die kleine Möwe den Dünenläufer an. "Du? Aber du kannst doch gar nicht fliegen!"
"Nö, aber das muss ich auch nicht", erwiderte der grinsend. "Hab schon oft gesehen, wie kleine Vögel das lernen, und ich kann ja Wolken an den Himmel pusten, von Luftströmen verstehe ich also was! Achso, sag mal... wie heißt du eigentlich?"
DIE KLEINE MÖWE ZUCKTE MIT DEN FEDERN. "Weiß nicht. Wir haben keine Namen, wir erkennen uns alle am Gefieder und Geschrei. Wie heißt du denn?"
"Kasimir. Kasimir Aurora Leopoldus Azura der Zweite, aus der Familie der Tintenbläulinge, wenn du's genau wissen willst. Kannst mich aber Kasimir nennen." In seiner Stimme schwang unverhohlener Stolz mit. Da machte sie noch größere Augen. "Ui, das ist aber ein schöner Name!"
"Danke! Und jetzt komm! Fliegen will gelernt sein! Ist ja schließlich noch kein Meister vom Himmel gefallen - obwohl", sagt er lachend, "du ja schon."
Und damit begannen die Flugstunden. "Zuerst die Praxis", meinte er mit erhobenem Zeigefinger. Er erbat sich von einem Marienkäferpärchen ein paar Blätter und zeigte ihr, wie sie mit den Flügeln schlagen musste, um abzuheben.
Nach einigen Versuchen, bei denen sie jedes Mal mit dem Schnabel im Sand landete, wurde sie sicherer, und nach ein paar Stunden, in denen sie emsig weiterübte und von Kasimir angefeuert wurde, schaffte sie tatsächlich die ersten wackeligen Flugmanöver einige Handbreit über dem Boden. Als sie sich schließlich so sicher fühlte, dass sie ein Stückchen höher fliegen konnte, war Kasimir sehr zufrieden. Nun ging es an den Feinschliff.
Er zeigte der kleinen Möwe, wie sich die Blätter im Wind bewegten, wie sie warme und kalte Luft für ihren Flug nutzen konnte, und wie sie spürte, in welche Richtung sie sich legen musste, um in einen majestätischen Gleitflug zu verfallen. Nach einer besonders schönen Kurve jauchzte die kleine Möwe aus voller Kehle.
"Ich fliege! Kasimir, siehst du das? Ich kann fliegen! So richtig echt! Nein, ist das schön!" Dann landete sie, ein bisschen holprig zwar, aber unfallfrei, und ließ sich erschöpft auf den Boden plumpsen. "Puh, jetzt bin ich aber geschafft!"
"Das hast du toll gemacht!", rief Kasimir begeistert. "Aber es wird schon dunkel. Ich denke, eine ordentliche Mütze voll Schlaf wird uns jetzt beiden gut tun. Und morgen suchen wir dein Nest!" Gesagt, getan. Sie suchten sich eine weiche Moosstelle an einem Baum, kuschelten sich dicht aneinander und schliefen sofort ein.
ALS DIE SONNE AUFGING, gähnte die kleine Möwe ausgiebig, schüttelte ihr Gefieder, weckte den laut schnarchenden Dünenzwerg und breitete einen Flügel aus. "Spring auf Kasimir, und halt dich gut fest", sagte sie, "jetzt fliegen wir nach Hause!" Und das taten sie. Über Wipfel und Baumkronen glitten sie, ließen sich vom Wind treiben und flogen glücklich vor sich hin. Bis Kasimir plötzlich rief "Da unten! Da ist meine Düne! Wir sind ganz nah!" Die kleine Möwe beschrieb einen sehr vorsichtigen Bogen, und tatsächlich - da war auch ihr Nest!
Freudestrahlend landete sie zwischen ihren Geschwistern und ihren Eltern, die ganz aus dem Häuschen waren, sie wieder bei sich zu haben. "Wir haben dich die ganze Nacht gesucht, aber wir haben dich einfach nicht gefunden. Wie hast du es geschafft, zu fliegen?", wollten sie wissen. Da erzählten die kleine Möwe und Kasimir von ihrem Abenteuer. Als sie geendet hatten, brachte sie ihren treuen Begleiter zu seiner Düne und verabschiedete sich von ihm.
"Weißt du, ich finde, du brauchst auch einen Namen", sagt er, als er von ihrem Rücken rutschte. "Was hältst du von..." - er überlegte kurz "Lapislazuli Leopolda der Ersten? Dann sind wir quasi Geschwister", sagte er grinsend. Die kleine Möwe war überglücklich. Sie hatte nicht nur einen neuen Freund gefunden und das Fliegen gelernt, jetzt hatte sie auch noch einen so wunderschönen Namen bekommen.
Fortan unternahmen die beiden jeden Tag Ausflüge in alle Winkel des Strandes, und abends durfte sie den Dünenläufern sogar beim Farben anmischen und Himmel betupfen helfen. Und wenn wieder mal ein Sturm aufzog, machte sich Lapislazuli Leopolda die Erste bereit, falls wieder mal ein Dünenläufer durch die Luft gepurzelt kam...
Eine sehr schöne Geschichte. Hat mir gut gefallen. Lob an die Autorin.
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